Darf’s auch ein bisschen mehr sein? Der Deutschlandtakt und seine Folgen – ein Beispiel
erstellt von: Thomas Breck am: 12.11.2021
Darf’s auch ein bisschen mehr sein?
Der Deutschlandtakt und seine Folgen – ein Beispiel
Die 4-gleisige Strecke zwischen Bielefeld und Hamm soll für den Deutschlandtakt hergerichtet werden – die Vorwegnahme von Gesetz und Haushalt
Im Februar dieses Jahres übermittelte das Bundesverkehrsministerium (BMVI) der DB Netz AG einen Planungsauftrag. Dieses Dokument beschreibt für die ersten Planungsphasen (Lph1/2) Anweisungen, Ziele, Beschreibungen des geplanten Projekts Hannover – Bielefeld. Dieser Projektauftrag Lph1/2 wurde gefühlt zähneknirschend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es birgt sehr aufschlußreiche Details, die gar nicht den Abschnitt Hannover – Bielfeld betreffen!
Kurioser Weise wird zu diesem Zeitpunkt in dem Projektauftrag Bezug genommen auf einen Aus- und Neubau zwischen Bielefeld und Hamm, mit der Zielsetzung, beide Projekte zum gleichen Termin fertigzustellen. Und das unter Vorwegnahme der gesetzlichen Grundlagen (Bundesschienenwegeausbaugesetz), ökonomischen Betrachtungen (Kosten-Nutzen-Analyse) oder der ökologischen Überprüfung (Mensch, Natur, Umwelt, Klima).
2 Milliarden für 4 Minuten
Die vom BMVI im August dieses Jahres veröffentlichte Liste von Infrastrukturmaßnahmen (1) führt dieses Bauvorhaben detaillierter aus. Die Strecke zwischen Bielefeld und Hamm soll Deutschlandtakt-tauglich gemacht werden. Das bedeutet auch hier: 300 km/h! Der 3. Zielfahrplan gibt diese Geschwindigkeit als Ergebnis der Berechnungen vor. Es lebe die Hochgeschwindigkeit im Personen-Fernverkehr.
Die jetzige ICE-Reisezeit zwischen Bielefeld und Hamm beträgt laut der Reiseauskunft der Deutschen Bahn 25 Minuten. Die zukünftig geplante Fahrzeit soll 21 Minuten betragen. Die Baukosten werden mit 2 Milliarden geschätzt; mit dem Vergleichsjahr 2015. Wer die aktuellen Preissteigerungen im Bausektor verfolgt, der weiß, dass diese damaligen 2 Milliarden heute locker ihre 3 Milliarden wert sind. Man gönnt sich ja sonst nichts!
Was bedeutet das konkret? Nicht, dass die jetzige 4-gleisige Strecke ertüchtigt wird. Nein, es bedeutet den Abriss von zwei der vier Gleise und deren Neubau. Die politisch gewünschte Hochgeschwindigkeit macht so etwas erforderlich. Technisch muss eine Hochgeschwindigkeitsstrecke mit größeren Abständen und Fundamenten gebaut sein als die jetzige Strecke für bereits hohe, aber nicht derart hohe Geschwindigkeiten. Versiegelung, Lärm, CO2.
Im Vordergrund stehen grundsätzlich die Reisezeiten und Anbindungen des Fernverkehrs. Der Schienengüterverkehr ist untergeordnet. Der Nahverkehr wird in seiner Bedeutung unterschätzt
Das BMVI stützt sich in seiner Bewertung des Deutschlandtakts auf die folgenden Bundes-Gutachterlichen (Trimode + Intraplan) Aussagen und Zahlen (1):
Abschnitt | Reisende pro Jahr im Querschnitt – SPNV* | Reisende pro Jahr im Querschnitt – SPFV* | ||
Bezugsfall (Ist) | Planfall (Soll) | Bezugsfall (Ist) | Planfall (Soll) | |
Bielefeld – Brackwede | 1,7 Mio | 2,5 Mio | 8,7 Mio | 12,3 Mio |
Brackwede – Gütersloh | 1,7 Mio | 2,5 Mio | 8,7 Mio | 12,3 Mio |
Gütersloh – Rheda-Wiedenbrück | 1,9 Mio | 2,4 Mio | 8,9 Mio | 12,4 Mio |
Rheda-Wiedenbrück – Ahlen | 2,2 Mio | 2,6 Mio | 8,9 Mio | 12,4 Mio |
Ahlen – Hamm | 2,2 Mio | 2,6 Mio | 8,9 Mio | 12,4 Mio |
Quelle: Trimode + Intraplan – Deutschlandtakt – Bewertung Infrastrukturmaßnahmen für den 3. Gutachterentwurf, 17.08.2021
Konkrete Zahlen zum Schienenpersonennahverkehr (SPNV) liegen dem Verfasser direkt vor:
Abschnitt | Reisende/Tag | Gegenrichtung Reisende/Tag | Reisende pro Jahr im Querschnitt, Faktor 265* |
Bielefeld – Brackwede | (2016) 9.600 | (2016) 9.300 | 5,0 Mio |
Brackwede – Gütersloh | (2016) 6.700 | (2016) 6.500 | 3,5 Mio |
Gütersloh – Rheda-Wiedenbrück | (2016) 6.100 | (2016) 5.600 | 3,1 Mio |
Rheda-Wiedenbrück – Ahlen | (2016) 5.200 | (2016) 4.800 | 2,7 Mio |
Ahlen – Hamm | (2016) 5.800 | (2016) 5.500 | 3,0 Mio |
Das Methodenhandbuch des BVWP legt für den Fernverkehr einen Faktor von 348 zugrunde. Der Faktor 265 stellt also eine vorsichtige Rechenweise dar. Je höher der Faktor, desto mehr Reisende pro Jahr!
Der Zweckverband Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) trägt auf der Strecke zwischen Bielefeld und Hamm maßgeblich zu einem reibungslosen Nahverkehr bei
Abschnitt | Reisende pro Jahr im Querschnitt – SPNV (trimode + Intraplan) | Reisende pro Jahr im Querschnitt – SPFV* (NWL) | |
Bezugsfall (Ist) | Planfall (Soll) | Gemessene Daten (2016) | |
Bielefeld – Brackwede | 1,7 Mio | 2,5 Mio | 5,0 Mio |
Brackwede – Gütersloh | 1,7 Mio | 2,5 Mio | 3,5 Mio |
Gütersloh – Rheda-Wiedenbrück | 1,9 Mio | 2,4 Mio | 3,1 Mio |
Rheda-Wiedenbrück – Ahlen | 2,2 Mio | 2,6 Mio | 2,7 Mio |
Ahlen – Hamm | 2,2 Mio | 2,6 Mio | 3,0 Mio |
Die Zahlen sprechen für sich – der Nahverkehr, sprich die betreibende Gesellschaft, hat einen weit unterschätzten Anteil am Gelingen der Mobilitätswende. Mehr noch: dem Nahverkehr wird überhaupt keine Entwicklung (Steigerung der Fahrgastzahlen) prognostiziert. Die echt gemessenen Reisendenzahlen (Pendler) aus dem Jahr 2016 liegen bereits höher als das Bezugsjahr 2030 vom Bundesgutachter des BMVI! Ganz genauso wie auf der Relation Hannover – Bielefeld!
Wie mag das wohl auf weiteren Strecken aussehen?
Schätzungen und Hochrechnungen für den Deutschlandtakt tragen nicht dazu bei, dass dem Nahverkehr mehr Wertschätzung und damit verbunden auch mehr Gelder für den Bahninfrastrukturausbau zugebilligt werden. Das muss sich ändern! Mit den vagen Zahlen, die die Bundesgutachter heranziehen wird die Realität völlig falsch abgebildet. Das führt zu der Ansicht, dass der Abriss der Hälfte der funktionierenden 4-gleisigen Relation zwischen Bielefeld und Hamm zu einer bedeutsamen Förderung des Bahnverkehrs dazugehört. Die jahrelangen Behinderungen durch Bautätigkeiten, die neben den Fernverkehrreisenden auch die Millionen Nahverkehrreisenden (Pendler) erdulden müssen, bleiben außer Acht. Ein Zielfahrplan, der mit so wenig finanziellem, umweltlichem und klimarelevantem Weitblick agiert, stellt die Betroffenen vor ein Rätsel: was bringt uns das wirklich, und welchen Preis zahlen wir dafür?
Quellen: