Erdbebenkatastrophe in Türkei und Nordsyrien – Ein halbes Jahr danach
erstellt von: Axel Kleinecke am: 24.08.2023
Erdbebenkatastrophe in Türkei und Nordsyrien – Ein halbes Jahr danach
Die aktuelle Lage im Erdbebengebiet in der Türkei und in Nordsyrien ein halbes Jahr nach dem katastrophalen Beben im Februar dieses Jahres ist weiterhin schwierig. Millionen Betroffene leben noch heute unter unwürdigen Bedingungen in Zeltlagern und Notunterkünften. Über die aktuelle Lage berichtet Anita Starosta, eine Expertin von der Hilfsorganisation „Medico International“.
Das Erdbeben im Februar 20233 in der Türkei und in Nordsyrien war das stärkste Beben, das seit Beginn der Aufzeichnungen in diesem Gebiet gemessen wurde. In der Türkei hat es viele Städte in Schutt und Asche gelegt und unter den Trümmern der Häuser wurden über hunderttausend Menschen begraben. Unter den Anwohnern hat fast jede Familie damals Angehörige verloren, und mehrere Millionen Menschen wurden obdachlos. Sie mussten mangels staatlicher Hilfe unter prekärsten Bedingungen bei Nässe und Kälte zurechtkommen, denn die türkische staatliche Nothilfe funktionierte völlig unzureichend.
In Nordsyrien waren die Auswirkungen in den wenigen großen schon teilweise zerstörten Städten ebenfalls schlimm, doch Zeltlager und Flüchtlingsunterkünfte im freien Feld überstanden das Beben besser. Hier trafen aber die traumatischen Erlebnisse des Erdbebens auf eine Bevölkerung, die schon durch die jahrelangen militärische Übergriffe der Türkei zermürbt und geschwächt war. Schon vor dem Beben waren Transportwege und Wasserversorgung immer wieder zerstört worden, die Menschen durch Anschläge und türkische Bomben und Granaten terrorisiert und die Versorgung eingeschränkt.
Wir sprechen hier von den südlich an die Türkei angrenzenden Gebieten des Nachbarlandes Syrien, wo sich vor zehn Jahren, nach dem Zerfall der staatlichen syrischen Verwaltung eine basisdemokratische autonome Selbstverwaltung etabliert hatte, der es nicht nur gelang, den IS in ihren Gebieten zu besiegen, international bekannt wurde 2012 der Kampf um Kobane, sondern deren Gebiete unter dieser Verwaltung bald zu einer Insel des Friedens inmitten der von Kriegen zerrissenen Gebiete Syriens wurde. Diese Selbstverwaltung nach kurdischem Muster, auch unter dem Namen Rojava bekannt, ist ein alternatives antikapitalistisches Gesellschaftsmodell, das sich Menschenwürde und Frauenemanzipation auf die Fahnen geschrieben hat. Es ist diesem Modell zunehmend gelungen, die multi-ethnischen und multi-religiösen Bevölkerungsgruppen in diesem Gebiet in eine solidarische und demokratische Selbstverwaltung einzubinden und den Wiederaufbau der Städte und der Wirtschaft zu bginnen.
Obwohl Rojava sich ausdrücklich ohne Anspruch auf eine Staatsgründung nur friedlich und kooperativ innerhalb des syrischen Staates entwickeln wollte – das Modell wurde auch von Assad toleriert – erklärte der türkische Präsident Erdogan Rojava zu einer terroristischen Bedrohung für die Türkei und überzog ohne Anlass die Gebiete der autonomen Selbstverwaltung in Nordsyrien in den letzten Jahren mit mehreren militärischen Invasionen, denen Teilbesetzungen, Umsiedlungen und vor allem permanenter Terror gegen die Bevölkerung folgte. Von der Nato wurden diese eindeutig völkerrechtswidrigen Verbrechen ebenso toleriert, wie von der Bundesregierung wegen des Flüchtlingsdeals. Nach dem Rückzug der US-amerikanischen Truppen unter Trump verbündete sich Erdogan mehr und mehr mit Russland und terrorisiert seither die Rojava-Gebiete mit einem niedrigschwelligen Dauerkrieg. In den letzten Jahren gehören dazu auch gezielte Tötungen durch Drohnen, also politische Morde, an Zivilpersonen, vor allem Funktionsträger*innen in Politik und Verwaltung der basisdemokratischen Selbstverwaltung.
Anita Starosta von „Medico International“ war vor Ort und berichtet sowohl über die die Lage in der Südtürkei, wo die Menschen das Vertrauen in die Regierung verloren haben und unter prekären Bedingungen zu überleben versuchen, als auch aus den Rojava-Gebieten, wo nun auch das Modell der autonomen Selbstverwaltung an seine Grenzen kommt.